Kinderhilfe Afghanistan

Afghanistan

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.6.2004

In den Höhlen bei Tora Bora nahm es seinen Anfang
Tee mit dem Teufel: Reinhard Erös zeigt in Afghanistan, was eine Familie ausrichten kann

Von Michael Hanfeld

DSCHALALABAD, im Juni. Auf dem Hang vor der Schule warten mehr als hundert Kinder. In zwei Reihen zum Spalier aufgestellt, harren sie in der prallen Sonne aus, ihre hellblauen Kaftane sind von weitem zu sehen. Als der Troß sich ihnen nähert, rufen sie laut zur Begrüßung und decken die Honoratioren mit Blütenblättern ein. Über den Schulhof sind Planen von alten UN-Zelten gespannt, sie spenden Schatten und schützen die Festgesellschaft vor der stechenden Mittagssonne. An diesem Tag werden Reden gehalten, denn es gibt in dem kleinen Dorf Islamabad etwas zu feiern. Etwas, für das selbst ein Abgesandter des Kulturministers in Kabul die Tagesreise über Holperstraßen in die Provinz Laghman auf sich genommen hat: Die "Bonita Friedensschule" wird eröffnet; sie ist unter schwierigsten Bedingungen in weniger als einem halben Jahr gebaut worden, wird mehreren hundert Schülern Raum geben und ist in ihrem strahlenden Blau und Weiß sicherlich das schmuckeste Schulgebäude nicht nur in diesem Tal.

Zu verdanken ist dies einem Mann, der in der Menge, die, wie in Afghanistan üblich, gut bewacht wird, gerade den Berg hinaufklettert. Tags zuvor hat er einen Ehrentitel verliehen bekommen, der in diesem Land keine Floskel ist, sondern viel gilt: Reinhard Erös, der Gründer der "Kinderhilfe Afghanistan", wird als "deutscher Afghane" vorgestellt. Seit 1998 ist er mit der Unterstützung seiner Frau Annette und seiner gesamten Familie unermüdlich im Einsatz für den Wiederaufbau des Landes, das er liebt. Ein gutes Dutzend "Friedensschulen" hat er schon gegründet, Gesundheitsstationen aufgebaut, dem Krankenhaus in Dschalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar, ein Röntgen- und ein EKG-Gerät verschafft und auf dem Dach einer seiner Schulen die wohl erste Photovoltaikanlage des Landes installiert - um nur seine jüngsten Projekte zu nennen.

Den Ehrentitel "deutscher Afghane" hat sich Reinhard Erös schon einmal vor langer Zeit verdient. Sein Freund Mohammed Alem schrieb ihm seinerzeit zum Abschied, daß er nun "ein deutscher Afghane" sei. Das war, als Reinhard Erös 1990 die Stadt Peshawar im Norden Pakistans, an der Grenze zu Afghanistan, verließ. Dort hatte er mit seiner Familie gelebt, dort hatte er das "Deutsche Afghanistan-Komitee" geleitet, von dort aus hatte er jahrelang gefahrvolle Touren nach Afghanistan unternommen, um als Arzt an der Seite der Mudschahedin am Krieg gegen die russischen Besatzer teilzunehmen. Und dort war auch sein vierjähriger Sohn Trutz schwer erkrankt, der unter tragischen Umständen auf dem Weg nach Deutschland, nur wenige hundert Meter vor dem Erreichen der Klinik, starb.

Was der Bundeswehrarzt Reinhard Erös damals in Afghanistan erlebte, bevor er später - in den neunziger Jahren - dann den Auslandseinsatz des Bundeswehr-Sanitätskorps in Kambodscha mit anführte, das kann man in seinem 2002 erschienenen Buch "Tee mit dem Teufel" nachlesen. Der "Teufel", von dem dort die Rede ist, das sind die Taliban. Mit ihnen trank Reinhard Erös Tee und rang ihnen ab, Schulen vor allem für Mädchen zu gründen. Denn neben medizinischer Versorgung, um die er sich in den Flüchtlingslagern in Pakistan kümmerte, brauchten die Afghanen, so erkannte Erös, Bildung. Welche Ärzte und Krankenschwestern sollten die Frauen der Afghanen behandeln, wenn es den Mädchen verboten war, überhaupt zur Schule zu gehen und einen Beruf zu lernen? Dieser Argumentation verschlossen sich selbst die Taliban nicht. So nahm die "Kinderhilfe Afghanistan" im Sommer 1998 mit der ersten "Friedensschule" in Peshawar ihre Arbeit auf, sie wurde benannt nach dem verstorbenen Sohn der Familie Erös: "Paghman Trutz High School". Das war der Anfang mit 26 Lehrerinnen und 600 Schülerinnen. Nach dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 verlagerte die "Kinderhilfe Afghanistan" ihre Arbeit ins Land selbst. In der Provinz Nangarhar, die im von versprengten Taliban und Al-Qaida-Leuten gepeinigten Osten Afghanistans liegt, ist sie seither zu einer festen gesellschaftlichen und politischen Größe geworden - bei der es sich jedoch nach wie vor um die Initiative einer Familie mit fünf Kindern aus der Nähe von Regensburg handelt.

Wenn Reinhard Erös nicht in Afghanistan unterwegs ist, tourt er ohne Unterlaß durch Deutschland und hält Vorträge über seine Arbeit. Mehr als tausend Auftritte hat er inzwischen absolviert, und er hat Unterstützer in allen gesellschaftlichen Gruppen gefunden. Dutzende Schulen haben Partnerschaften übernommen, die Angehörigen von Bundeswehreinheiten Geld aufgetrieben, die bayerischen Landfrauen haben sich engagiert, Lions-Clubs und Unicef. Deren Botschafter Sir Peter Ustinov hat in seinen letzten Lebensmonaten noch die Patenschaft für eine der "Friedensschulen" der Familie Erös übernommen. Sie liegt fünfzig Kilometer nördlich von Kabul im Distrikt Pachman. An Silvester wurde sie eröffnet, jetzt, im Sommer, sind Lehrer und Schüler gerade dabei, aus dem grauen Vorplatz einen Garten zu machen. Einen Brunnen haben sie im Hof gebohrt, um den herum ein kleiner Teich angelegt werden soll.

Auf eineinhalb bis zwei Millionen Euro taxiert Reinhard Erös die Spenden, die seine Familieninitiative inzwischen von zahllosen kleinen und großen Unterstützern gesammelt hat. Die Buchführung und Verwaltung übernimmt für ihn die Caritas in Regensburg, bezahlte oder hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt die Kinderhilfe in Deutschland nicht. Es fallen keine Kosten für Verwaltung oder Werbung an, das Geld geht eins zu eins in die Projekte. In Dschalalabad arbeiten drei Afghanen für die Kinderhilfe, die im Englischen unter GAAC firmiert - German Aid for Afghan Children. Sie bezahlt insgesamt sechshundert Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern, Ingenieure, Maurer und andere Helfer. Als Statthalter fungiert von Peshawar aus Erös' Freund Alem. Er lenkt die Dinge, wenn Reinhard Erös in Deutschland ist. Alle paar Wochen aber reist er durch Afghanistan, um zu sehen, was in seinem Sinne und Auftrag geschieht und was noch passieren muß.

Es geht alles schnell und unbürokratisch, mit militärischer Präzision und ab und an auch mit dem dort gepflegten Tonfall. Die Ärzte der Universitätsklinik in Dschalalabad drohen, den Dienst zu quittieren, weil sie von ihren sporadisch gezahlten Gehältern ihre Familien nicht ernähren können? Die Kinderhilfe Afghanistan springt ein. Es werden Computer an den Schulen gebraucht? Reinhard Erös beschafft sie. Die Bibi-Hawa-School braucht ein neues Gebäude? Der Kulturminister des Distrikts handelt es mit dem "deutschen Afghanen" aus. So geht es in einem fort. Man kann sich kaum vorstellen, wo und wie der Unterricht in dieser Gegend ohne die "Kinderhilfe Afghanistan" abliefe, die zunächst gegründet wurde, um Frauen und Mädchen in den Flüchtlingslagern in Pakistan beizustehen. Die Kinderhilfe baut nicht nur Schulen und Gesundheitsstationen, sie sorgt auf mindestens drei Jahre für den Unterhalt, sie bezahlt die Ärzte und Lehrer und beschafft die Lebensmittel, die an Waisenkinder verteilt werden, die hier zur Schule gehen.

Die Zahl der Schüler, die auf diese Weise betreut werden, geht in die Zehntausende. Die wenigen staatlichen Schulen, die es in diesem bildungshungrigen Land gibt, sind hoffnungslos überlastet. An den meisten werden die Schüler in zwei Schichten unterrichtet - für die eine Hälfte geht der Unterricht von frühmorgens bis mittags, für die andere vom Nachmittag bis in den Abend. In der staatlichen Bibi-Hawa-School gibt es nicht einmal genug Räume für den Unterricht, von Lehrmaterial zu schweigen. Die Jungen sitzen draußen auf dem Schulhof im Staub, die Mädchen hocken in dunklen, kleinen Räumen, die der Gestank der Latrine umweht. Mehrere tausend Schüler teilen sich hier drei Toiletten. Nach dieser Ortsbegehung ist klar: Auch hier braucht es eine neue Schule, mit Unterstützung der Kinderhilfe wird sie errichtet werden. Die Vereinbarung wird per Handschlag auf dem Schulhof vollzogen. Zuvor wurde noch der Neubau der berühmten Allaei-High-School für Mädchen eröffnet.

Am nächsten Tag sitzen siebzig ältere Männer um das Büro der Kinderhilfe in Dschalalabad, die ein großes Anliegen haben. Sie sind den ganzen Tag mit den klapprigen alten Mercedes-Bussen, die hier im öffentlichen Nah- und Fernverkehr unterwegs sind, aus ihrem Dorf gekommen, um Reinhard Erös ebenfalls um den Bau einer Schule zu bitten. Am Rande ihres Tals nämlich beginnen die Taliban gerade, eine Koranschule zu errichten. Eine andere Schule gibt es nicht - falls sie die "Kinderhilfe" nicht errichtet, um den Taliban zuvorzukommen, die nicht nur eine Terrorgefahr darstellen, sondern für die Afghanen auch ein politischer Faktor des täglichen Leben sind. Also muß man sie auch politisch bekämpfen, Tee trinken mit dem Teufel eben.

So geht Tag für Tag ein Kampf weiter, den der einstige Fernspäher Reinhard Erös 1985 aufgenommen hat, als er in den Höhlen von Tora Bora verletzte Afghanen behandelte. Den Preis, den er dafür bezahlt, behält er für sich, man kann ihn erahnen, wenn man an seinen jüngsten Sohn Trutz denkt oder an den zehnjährigen Jungen Alem, der Erös in seiner Zeit als afghanischer Feldarzt begleitete, von einer russischen Granate getroffen wurde und an seinen Verletzungen qualvoll starb. Doch hadert die Familie nicht mit ihrem Schicksal, wie Annette Erös sagt. Manche Dinge passieren, und man kann sie nicht aufhalten, gegen andere kann man etwas unternehmen und für vieles etwas tun.

Die Reden in dem kleinen Dörfchen mit dem großen Namen Islamabad wollen keine Ende nehmen. Der Malik, der Bürgermeister, ein kleiner Mann mit großer Brille auf der Nase, nutzt die Gelegenheit, nach der Schule nun den Bau eines Kindergartens zu fordern. Und ein Krankenhaus müßte auch her. Der Mullah des Dorfes aber beschließt die Runde mit einem Auftritt wie ein Entertainer. Er bringt alle zum Lachen, auch die, die ihn nicht verstehen. Ob er nämlich zuerst für die Deutschen und Nichtmuslime beten solle und dann für die Dorfbewohner. Oder gar nicht. Oder beides. Gelacht und gebetet wird an diesem Tag für alle. Nach der Feier gehen die Bewacher, bei denen sich Reinhard Erös jedesmal besonders bedankt, wieder auf ihre Posten im Tal oder setzen sich in die Begleitfahrzeuge. Und die Karawane des "deutschen Afghanen", der weiter als Einzelkämpfer in humanitärer Mission unterwegs ist, verschwindet in einer großen Staubwolke .

 

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