Kinderhilfe Afghanistan

Afghanistan

Mittelbayerische Zeitung vom 21. April 2004

"Der nachte Vater verliert seine Ehre"
Afghanistan-Experte Reinhard Erös: USA jagen Terroristen und schaffen sich neue Feinde

von Harald Rast

REGENSBURG. So jagen amerikanische Truppen im Osten Afghanistans Taliban-Kämpfer: Die US-Soldaten umzingeln mit Panzern und Jeeps ein Bauerndorf. Sie trennen die Männer von den Frauen und Kindern. Alle Männer werden gefesselt und verschleppt. In einer Baracke müssen sie sich total entkleiden. Sie werden von Kopf bis Fuß rasiert und mit Entlausungsmitteln eingesprüht. Nach dreitägigen Verhören schicken die US-Truppen alle wieder zurück in ihr Dorf. Der Taliban-Verdacht hat sich als haltlos erwiesen.
Dr. Reinhard Erös kennt derlei Vorfälle, die er im Gespräch mit der MZ schildert, nicht nur aus den Berichten seiner afghanischen Freunde. Der Afghanistan-Experte aus Mintraching bei Regensburg hat die rüden Attacken der GIs bereits am eigenen Leib verspürt. In Landestracht gewandet, drückte ihm ein US-Soldat bei einer Kontrolle den Lauf eines M 16-Gewehres an die Brust und fauchte: „Piss off, you muslim motherfucker!”
Erös weiß genau, was sich in den Köpfen muslimischer Männer abspielt, denen eine derart entwürdigende Behandlung wiederfährt: „Ein armer Bauer vom Volksstamm der Paschtunen hat nur seine Waffe — und seine Ehre. Und die muss verteidigt werden.” Weil der Sohn seinen Vater nackt gesehen und ihn damit entehrt hat, gebiete das alte Regelwerk der Paschtunen nur eine Konsequenz: Rache an Amerikanern!
Erös studiert das Land und die Mentalität seiner Bewohner seit fast 20 Jahren. Er spricht ihre Sprache, als Mediziner hat er Tausende von Menschen behandelt. Gemeinsam mit seiner Frau Annette und seinen fünf
Kindern hat der pensionierte Bundeswehr-Arzt die Kinderhilfe Afghanistan gegründet. Die Organisation be-
treibt in den abgelegenen Gebieten östlich von Kabul inzwischen zwölf Schulen für rund 20 000 Kinder. Erös' Erinnerungen unter dem Titel „Tee mit dem Teufel” liegen inzwischen in vierter Auflage vor. Er hält Hunderte von Vorträgen an Schulen und führt gemeinsam mit dem Star-Journalisten Scholl-Latour Seminare durch.
Der 56-Jährige verbringt rund die Hälfte jedes Jahres im Land am Hindukusch. Er pendelt etwa alle vier Wochen zwischen Ost-Afghanistan und der Oberpfalz.
Im Jahr 2001 haben die USA das Taliban-Regime verjagt. „Die blasen in drei Wochen jeden Tyrannen weg, aber sie haben kein Konzept für den Wiederaufbau”, beklagt Erös. „Die USA kennen nur zwei Strategien: Geld oder Gewalt.” Doch einen Afghanen könne man bestenfalls kurzfristig mieten, aber nie kaufen. „Keine Macht der Welt konnte Afghanistan bislang kolonialisieren.”
Nach Auskunft von Erös sind noch rund 11 000 amerikanische Soldaten unterwegs um versprengte Taliban- und El Kaida-Kämpfer zu fassen. Kosten der Aktion: 1,25 Milliarden Dollar pro Monat, also rund 15 Milliarden Dollar pro Jahr. Erös schätzt, dass der Wiederaufbau des von 23 Jahren Bürgerkrieg geschunden Landes jährlich maximal den doppelten Betrag kosten würde.
Der militärische Aufwand stehe in keinem Verhältnis zum Erfolg. Bislang sei in Afghanistan kein einziger Taliban-Führer geschnappt worden. Bei ihren Razzien würden die US-Truppen kilometerweit durch rosa blühende Schlafmohnfelder fahren. „Doch gegen den Rauschgift-Anbau unternehmen die Amerikaner nichts”, ärgert sich Erös. Aus dem Schlafmohn wird Rohopium gewonnen und daraus wiederum die Killer-Droge Heroin. „In Kabul hat die UN eine eigene Drogenbehörde eingerichtet, doch von denen bewegt keiner seinen Hintern hinaus in die Dörfer”, schimpft Erös.

5000 Tonnen Rohopium

Er schätzt, dass in Afghanistan unter den Augen der Amerikaner und der Vereinten Nationen in diesem Jahr 5000 Tonnen Rohopium hergestellt werden. Daraus lassen sich 500 Tonnen reines Heroin extrahieren, mit einem Endverbraucherwert von rund 50 Milliarden Euro.
"Afghanistan wir zu einem Narko-Staat wie Kolumbien", befürchtet Erös, "das Rohopium könnte dem Land den Todesstoß geben". Dabei wüttend die afghanischen Bauern, "alles gastfreundliche Analphabeten”, gar nicht, was die von ihnen angebaute Pflanze anrichte.
Dass sich die Anbauflächen in kürzester Zeit verzehnfacht haben, führt Erös auf einen Fehler der UN zurück. So hätten die Landwirte so lange Weizen geerntet, bis die UN tausende Tonnen Getreide aus US-Beständen kostenlos verteilen ließ — und damit den Preis kaputt machte. Deshalb hätten die Bauern eben wieder auf Schlafmohn umgestellt.
Eigentlich sei der Rauschgift-Anbau streng verboten. „Doch die afghanische Polizei lebt genauso von den Opium-Einnahmen wie die Warlords und ihre Kämpfer.” Und die Regierung in Kabul sei machtlos.
Erös ist überzeugt, dass man Afghanistan nicht kurzfristig eine moderne westliche Demokratie überstülpen kann. Er setzt auf langfristige Verbesserungen, vor allem durch Bildung. Dass Afghanistan wieder ins totale Chaos abgleitet, schließt Erös aber aus: „Die Menschen haben die Schnauze voll vom Krieg.”
 

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