Mittelbayerische Zeitung 22. Dezember 2004
Afghanen vor der Rückkehr in eine verwüstete Heimat
Harald Rast
PESCHAWAR. Die Fäkalien versickern in schmalen Rinnsalen im Boden. Ein zerlumptes kleines Mädchen spielt im Matsch. Eine Frau in einer leuchtend blauen Burka verschwindet schnell um eine Ecke. In winzigen fensterlosen Lehmhütten hausen Familien mit bis zu 20 Kindern. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, keine Kanalisation — und kaum Hoffnung.
Im Flüchtlingslager von Kacha Gari, am Stadtrand von Peschawar im Nordwesten Pakistans, sammelt sich bis heute das menschliche Strandgut eines lange vergangenen Krieges. Zwischen 1979 und 1989 hielt die Sowjetunion Afghanistan besetzt. Etwa fünf Millionen Frauen, Kinder und alte Menschen flohen damals vor Hubschrauber-Attacken, Panzer-Beschuss, Minen und Hungersnot. Rund ein Drittel der afghanischen Bevölkerung verließ damals ihr Heimatland. Es war der weltweit größte Exodus seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Im Lager Kacha Gari vegetieren noch immer 50 000 bis 60 000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Doch in all dem Elend aus Dreck und Not leuchtet plötzlich strahlend weiß eine getünchte Mauer. Ich habe das kleine Krankenhaus der „Kinderhilfe Afghanistan“ erreicht, das mitten im Flüchtlingscamp steht.
Dankbar für jede Abwechslung laufen die größeren Kinder aufgekratzt neben dem Auto her. Der Toyota holpert im Schneckentempo über die ungeteerte Lagerstraße. Das große eiserne Tor öffnet sich. Mitten in einer Hölle auf Erden hält sich trotzig eine Oase der Sauberkeit und der Menschlichkeit. Die Einrichtung wurde 1998 von dem früheren Bundeswehr-Arzt Dr. Reinhard Erös aus Mintraching (Lkr. Regensburg) gegründet. Das Hospital finanziert sich mit Spendengeldern aus Deutschland.
Stolz führen mich der Direktor und die beiden Ärztinnen durch die Räume. Enthusiasmus und Einsatzwillen müssen die begrenzten technischen Möglichkeiten ausgleichen. In der Geburtenstation kommen monatlich 50 bis 60 Babys auf die Welt. Meist sind es Risikogeburten, denn die geburtserfahrenen Frauen suchen das Spital nur bei Komplikationen auf. Manche Mutter im Lager wurde schon von zehn und mehr Kindern entbunden.
Die vor wenigen Monaten von der „Kinderhilfe Afghanistan“ neu errichtete Zahnarztpraxis entspricht in etwa deutschem Standard der frühen 60er Jahre. Hier werden nicht nur Zähne gezogen sondern auch Plomben gesetzt. Besonders wichtig ist ein Raum, in dem gesundheitliche Aufklärung auf dem Programm steht. Die Ärzte müssen mit Postern und Schautafeln arbeiten, da die meisten Patienten Analphabeten sind. Ein Schwerpunkt wird auf die Familienplanung gelegt. Und so manche Frau kommt danach regelmäßig und holt sich —häufig ohne Wissen ihres Mannes — die Anti-Baby-Pille.
Etwa 100 afghanische Flüchtlinge werden täglich medizinisch versorgt. Die schweren Fälle werden ins Krankenhaus von Peschawar überwiesen. Auch hierfür übernimmt die „Kinderhilfe Afghanistan“ die Kosten.
Im Lagerhospital selbst wird nur eine symbolische Praxisgebühr erhoben: fünf pakistanische Rupies pro Monat, das sind umgerechnet acht Cent. Aber selbst das ist ein spürbarer Betrag in einem Land, in dem ein Lehrer, Ingenieur oder Informatiker monatlich den Gegenwert von 50 Euro verdient.
Doch Pakistans viertgrößte Metropole ist eine Stadt krasser Gegensätze. Nicht weit entfernt von den Slums glänzen Villen. Deren Eigentümer sind durch „landwirtschaftliche Produkte“ reich geworden — eine vornehme Umschreibung für Drogen-Anbau und -Handel. Eselskarren rollen am internationalen Flugplatz vorbei — auf dessen Rollfeld stehen moderne Mirage-Abfangjäger startbereit. Die meisten Frauen sind völlig von der Burka verhüllt — aber Kentucky Fried Chicken erfreut sich wachsender Beliebtheit. Der Muhezzin ruft lautstark fünf Mal täglich zum Gebet — und auf 50 TV-Stationen laufen Sendungen aus aller Welt, die gläubigen Muslimen oft wie die blanke Pornographie erscheinen.
Afghanistans großer Nachbar quält sich am Spagat zwischen Dritte-Welt-Land und Atommacht. Das Land unterhält eine 800 000-Mann-Armee. Viele Pakistanis halten einen islamischen Gottesstaat für erstrebenswert, während ihr Präsident, General Pervez Musharraf, eine stramm pro-westliche Politik verfolgt. In Peschawar werden diese Widersprüche besonders sichtbar. Die Hauptstadt von Pakistans West-Provinz wird von einer den Taliban nahe stehenden Partei regiert. Musharraf gilt hier als Marionette der USA — und traut sich aus Angst vor Attentaten kaum anzureisen.
Nach dem 11. September galt der schlimmste Feind des Westens den Peschawaris als Idol: Osama bin Laden. Hunderttausende demonstrierten damals gegen den drohenden Einmarsch der USA in Afghanistan. Auf dem großen Basar waren Poster und T-Shirts mit dem Konterfei des Terror-Paten der Verkaufsschlager. Der Mann, der nur mit einer Kalaschnikow in der Faust der Hypermacht USA trotzte, galt als Idol. Doch auch „Helden“ unterliegen der Schnelllebigkeit von Modeerscheinungen. Sämtliche Tassen, Tücher und Teppiche auf denen Osama verherrlicht wurde, sind längst verschwunden.
In der Region um Peschawar entschied sich stets die afghanische Geschichte. Am nur 60 Kilometer entfernten Khyber-Pass scheiterten die Briten kläglich mit ihrem Vorhaben, Afghanistan zu unterwerfen. An der Stadtgrenze von Peschawar endete einst das britische Empire. Noch heute herrscht in Pakistan Linksverkehr, in Afghanistan fahren die Autos rechts. Die Versorgung der Hauptstadt Kabul läuft über die pakistanische Hafenstadt Karachi, und damit via Peschawar. Die Gegend ist überwiegend von Paschtunen besiedelt, die in Afghanistan das Mehrheitsvolk stellen.
Während die Sowjetunion den Hindukusch-Staat unterjochte, entwickelte sich Peschawar zum Zentrum des Widerstandes. Hier waren die illegalen Waffenschmieden angesiedelt, welche die Mudschahedin mit Rüstungsnachschub versorgten. In den 80er Jahren galt Peschawar als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Der sowjetische, der pakistanische und der amerikanische Geheimdienst sowie Warlords und Drogenbarone lieferten sich mit Bombenattentaten einen erbitterten Kleinkrieg. Und zwischen all den unübersichtlichen Fronten agierte damals auch ein hühnenhafter Araber: Osama bin Laden.
Vielleicht wird Pakistans „wilder Westen“ für Afghanistan schon bald wieder von entscheidender Bedeutung sein. In hunderten von Koran-Schulen rüsten die Taliban zur Rückeroberung des Landes. In den grauenhaften Flüchtlingslagern fällt es den religiösen Fundamentalisten leicht, Nachwuchs zu werben. Auch deshalb hat Pakistans Regierung verfügt, dass die Notquartiere bis in drei Jahren geräumt seine müssen. Mehrere Millionen Afghanen sind mit finanzieller Hilfe der UNO bereits zurück gekehrt. Doch über einer Million Menschen droht nun die zwangsweise Umsiedlung. Nach über 20 Jahren Krieg erwartet die afghanischen Flüchtlinge ein völlig verwüstetes Heimatland.