Nordbayerische Nachrichten vom 19/20. Juni 2004
Gegen Unwissen in Afghanistan und in der Welt
Reinhard Erös kämpft unermüdlich darum, dass die Lage am Hindukusch differenziert betrachtet wird
VON KATRIN MERKEL
„Man muss differenzieren, wenn man über die Gegenwart und Vergangenheit Afghanistans spricht” — vor allem diese Botschaft war es, auf die es dem ehemaligen Bundeswehrarzt Reinhard Erös in der Aula des Gymnasiums bei seinem Vortrag ankam.
HERZOGENAURACH - Erös, der Afghanistan seit 20 Jahren kennt und 1998 das Projekt „Kinderhilfe Afghanistan” gründete, versucht mit Vorträgen vor ganz unterschiedlichem Publikum Verständnis für das so fremde und zum Leidwesen Erös' in den Medien auch so verfehlt dargestellte Land zu wecken.
Über 600 Vorträge hielt Erös schon, unermüdlich ist er unterwegs, um Aufklärung zu leisten. In Afghanistan leistet er Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes, in seiner Heimat ist er im Kampf gegen das Unwissen aktiv. Als ausgewiesener Experte ist er mittlerweile beim Bundestag und sogar bei der UNO begehrt.
Sein Fachwissen eignete er sich in langen Jahren an: Schon in der Zeit der sowjetischen Besatzung leistete seine Familie der Bevölkerung vor Ort die dringend benötige Hilfe.
Stets auf Reisen
1990 kehrten die Erös' dann nach Deutschland zurück und leben nun in der Nahe von Regensburg, doch auch von hier aus sind Reinhard Erös, seine Frau Annette und auch die Kinder in der Afghanistan-Hilfe aktiv. Vater Erös reist durch Deutschland, um über die heutige politische Situation in dem Land zu berichten (Erös: „Da herrscht heute kein Krieg mehr!”) sowie regelmäßig nach Afghanistan, um die Projekte der „Kinderhilfe Afghanistan” zu besuchen.
Erklärtes Ziel Reinhard Erös' ist es, den Zustand vor 1978/79 wiederherzustellen. Bis dahin nämlich lebte das Land in Frieden, doch mit dem Einfall der Sowjetunion änderte sich das schlagartig. Zehn Jahre lang wehrten sich die Afghanen hartnäckig gegen die Besatzer und trugen letztlich auch den Sieg über die damals stärkste Militärmacht der Welt davon.
Und dieser Super-Gau für die Sowjets liegt nicht zuletzt in der Natur der Afghanen begründet. Denn Afghanistan, das ungefähr so groß ist wie Deutschland und Frankreich zusammen, ist ein Land der Gegensätze und Widrigkeiten: Auf 750 Kilometer Entfernung herrscht ein Temperaturunterschied von bis zu 100 Grad (über 30 Grad Kälte im Hindukusch, an die 70 Grad in der Wüste), was die Bewohner dieses Stückchen Erdes prägte und sie mit einer besonderen Widerstandsfähigkeit ausstattete.
"Hart gegen sich selbst”
„Ein Afghane gibt nicht auf”, weiß Erös zu berichten und auch, dass die Afghanen sehr hart sein können - nicht zuletzt auch gegenüber sich selbst.
Erös selbst vermittelt nicht minder das Bild eines unermüdlichen Kämpfers: Weltweit war er für die Bundeswehr bei Einsätzen tätig, während der sowjetischen Besatzung Afghanistans in den Achtzigern ließ er sich beurlauben, um den Afghanen auf illegale Weise (die Sowjets hatten Kopfgelder auf ausländische Helfer ausgesetzt) von Pakistan aus zu Hilfe zu kommen. Des nachts kamen die Ärzte mit Maultieren über die Grenze und richteten Höhlenklinken zur Versorgung der Bevölkerung ein.
Auch mit Blick auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre predigt Erös die dringend angeratene Differenzierung: „Es besteht ein großer Unterschied zwischen den aus Pakistan importierten paschtunischen Taliban, die weitgehend Analphabeten sind, und den weltgewandten arabischen Al Quaida-Terroristen, die über eine hohe Bildung verfügen. Man darf da nicht alles in einen Topf werfen.”
Wie so vieles seien auch diese Phänomene von außen in das Land hineingetragen worden. Auch wenn die Afghanen nicht gerade zimperlich mit ihren Feinen umgehen würden, mit islamischen Terrorismus hätten sie nichts zu tun, so Erös. In Afghanistan sei vielmehr ein gastlicher Islam beheimatet, den die Afghanen nie exportieren wollten und der vielfach das Gegenteil vom arabischen Islam sei. Nichtsdestortrotz sei aber interkulturelle Kompetenz zum Verständnis nötig.
Erös sprach auch über die Ursprünge der Taliban-Bewegung: Dies vermittelte nach der Invasion der Sowjetunion den arabischen Wahabi-Islam an hunderttausende afghanische Buben. Diese befanden sich nach der Flucht auch ihrer Heimat als Voll- oder Halbwaisen in den Flüchtlingslagern in Pakistan. Dort bauten die Araber Koranschulen und versorgten die Jungen. Aber nicht etwa Lesen und Schreiben stand auf dem Stundenplan, sondern das Auswendiglernen des Korans - wohlgemerkt auf arabisch!
Unter anderem wurde den Jungen dort ein extrem negatives Frauenbild mit auf den Weg gegeben. Auch heute bestehen noch Koranschulen.
Vor allem in Pakistan erfreut sich die Taliban- Bewegung mit ihren Schulen großer Beliebtheit, denn der Staat selbst baut keine Schulen. Ein Grund mehr für Erös, zumindest im Osten Afghanistans einen gewichtigen Beitrag zur Schulversorgung zu leisten.
Seine „Kinderhilfe Afghanistan” ist in der Zwischenzeit zu einer festen Größe geworden. Unter dem Motto „Bildung für Kinder, Frauen, Menschen” entstanden in dem extrem bildungshungrigen Land seit 1998 über ein Dutzend Friedensschulen, die Zehntausende von Schülern betreuen und allesamt durch deutsche Spenden finanziert werden.
Annähernd 1000 Lehrer, Ingenieure Mediziner (die in Gesundheitsstationen tätig sind) und andere Helfer in Afghanistan stehen mittlerweile auf der Gehaltsliste der „Kinderhilfe Afghanistan”. In Deutschland beschäftigt das Projekt jedoch keine bezahlten Kräfte, so dass die Spenden ohne Abzug bei den Bedürftigen ankommen.
Alles aus Kabuler Sicht
Im Gegensatz zu dem allergrößten Teil der anderen in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen konzentriert sich die „Kinderhilfe” auf die ländlichen Regionen, in denen die Bauern immer noch schwer bewaffnet sind, und nicht auf die Hauptstadt Kabul. Dort versammelt sich auch die Weltpresse, weswegen ins Ausland eigentlieh nur ein Kabuler Afghanistan-Bild dringt.
Doch in dem vorwiegend dörflich strukturierten Land existieren starke Unterschiede zwischen Stadt und
Provinz. Das war auch in der Vergangenheit schon so. Erös, der vor zwei Jahren vorzeitig aus der Bundeswehr ausschied, kann berichten, dass gegen die Westen gängige Überzeugung auf dem Land viele Menschen nie einen der seit 1994 herrschenden Taliban zu Gesicht bekommen haben: „Die Taliban kämpften gegen das gottlose Leben, das aber war in der Stadt und nicht auf dem Land zu finden.” Die Gegensätze zwischen Stadt und Land haben auch beileibe nicht abgenommen: Heute ist in Kabul für Geld mittlerweile alles zu haben, hundert Kilometer weiter „herrscht noch Mittelalter”. .
Eines der großen Probleme heute sind die noch nicht geräumten Minen. Etwa zehn bis zwölf Millionen Minen befinden sich noch im Boden, zum allergrößten Teil aus sowjetischem Bestand. An der langwierigen Räumung beteiligen, sich viele Nationen, nicht jedoch der russische Staat, was bei Erös auf Unverständnis stößt: „Warum protestieren hier zum Beispiel die Deutschen nicht, die selbst viel Geld in die Minenräumung in Afghanistan investieren?”
Schulen im Drogenstaat?
Ein anderes Problem ist der Schlafmohn-Anbau. Anfang der achtziger. Jahre hatte die CIA den Afghanen beigebracht, Heroin herzustellen und damit nahm das Unheil seinen Lauf. Heute ist der Heroinhandel nicht - wie etwa zu vermuten - Sache von Kriminellen, sondern die der Führungsschicht. Erös dazu: „Der Anbau von Opium ist dort so offiziell wie bei uns der Weizenanbau. Was aber nutzen meine Schulen, wenn Afghanistan zu einem Drogenstaat wird?”
Eines machte Erös an diesem Abend in Herzogenaurach auf jeden Fall klar: „Afghanistan ist immer noch gefährlich, aber dennoch muss man alles in die richtige Relation rücken.” Auch die Gesamtentwicklung des Landes sieht er positiv, vorausgesetzt natürlich, die ausländischen Interessen an Afghanistan können gebremst werden.