Kinderhilfe Afghanistan

Afghanistan

MARKUS ZIENER, DSCHALALABAD
HANDELSBLATT, 18.5.2005

Bild: Markus ZienerIn eine echte Schule gehen. Auf Stühlen sitzen. In echte Hefte schreiben. Und dabei ein Dach über dem Kopf haben. Ajmal, 15, konnte nicht glauben, dass es noch etwas anderes geben sollte als Unterricht im Freien, bei Hitze, Wind und Kälte, ohne etwas zum Aufschreiben zu haben, nur Auswendiglernen, immer wieder. Als einer von mindestens 3 000 der Shajeed-Aref-Schule in Dschalalabad ist dies für ihn aber nun Vergangenheit. Ajmal geht jetzt auf eine der größten Jungenschulen in
der Provinz Nangahar, im Osten Afghanistans. Jeden Tag radelt er eine Stunde hin und eine Stunde zurück.
Er ist stolz auf „seine“ Schule, und er zeigt es. Ajmal lacht ein selbstbewusstes Lachen. So wie einer, der seine erste Uhr bekommen hat. Wie einer, der gerade erwachsener geworden ist. „Ich will mal Arzt werden“, sagt Ajmal.

Uns fehlen mindestens 40.000 Lehrerinnen

Bildung. Lesen, Rechnen und Schreiben. Auch dreieinhalb Jahre nach dem Sturz der Taliban geht es noch immer um diese Grundlagen in Afghanistan. Und sie sind wichtiger denn je. Als vor wenigen Tagen nach dem Bericht des US-Magazins Newsweek“ über die vermeintliche Koranschändung in Guantanamo der Zorn vieler Afghanen in bürgerkriegsähnliche Unruhen umschlug, da hatten die Aufwiegler im Osten des Landes leichtes Spiel. Denn überall dort, wo Bildung rar ist, fallen Gerüchte und Spekulationen auf fruchtbaren Boden.

Ihren Ausgang nahmen die Proteste in der Provinzstadt Dschalalabad. Das ist kein Zufall. Denn im Grenzgebiet zu Pakistan sind auch jene Kräfte zu Hause, denen das neue Afghanistan nicht passt, denen die Präsenz der Amerikaner verhasst ist und die jede Gelegenheit nutzen, um Stimmung gegen sie zu machen.

Was hiergegen hilft, ist vor allem Bildung. „Uns fehlen allein 40 000 weibliche Lehrkräfte“, beklagt jedoch der Kabuler Minister für Höhere Bildung, Amir Schah Hassanjar. Er ist an diesem Abend zu Gast im Palast des Gouverneurs von Nangahar.
Drei Stunden hat er gebraucht, um mit seiner Stellvertreterin in einem Geländewagen aus der Hauptstadt in den Osten zu fahren. Hassanjar ist nach gerade mal drei Jahren in den USA wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Aber diese Zeit hat für einige Erkenntnisse genügt. „Wenn die Lehrer keine internationale Erfahrung haben, dann bringen sie keinen Wandel.
Und wenn sie nur Auslandserfahrung haben, dann schaffen sie den falschen Wandel.“

Eben das ist die Krux des afghanischen Bildungsmarathons. Entweder unterrichten Lehrer, die außer Haus und Hof nichts kennen. Oder es sind Auslandsafghanen, die in Amerika, Deutschland oder England aufgewachsen sind. Das Ergebnis ist ein wildes Durcheinander. Die Lehrpläne der Grund-, Mittel und Oberschulen sind nicht aufeinander abgestimmt. „Wir müssen
ein Curriculum schaffen, das die Bildungsangebote miteinander verschränkt“, sagt der Minister.

Bildung ist wichtig, das hat auch der Gouverneur verstanden, der neben dem mit Anzug und Krawatte westlich gekleideten Minister sitzt, selbst mit Shalwar Kameez undTurban angetan, und dessen Blicke nun auf die andere Tischseite wandern. Denn da sitzt einer, der genau das nach Dschalalabad bringt, Reinhard Erös, Gründer und Prinzipal der „Kinderhilfe Afghanistan“. Erös fängt den Blick von Haji Din Mohammad auf und beginnt zu erzählen. Über die Kinderhilfe, über sich, vor allem aber über Schulen, die er und sein Team gebaut haben und noch bauen wollen.

Denn dass Ajmal nun in vier sauberen Wänden sitzt und stolz sein kann, hat unmittelbar etwas mit dem 56-jährigen Oberpfälzer zu tun. Erös sammelt in Deutschland Geld und macht daraus Schulen. So wie die Shahjeed-Aref-Schule, die
200 000 Euro gekostet hat und gerade eröffnet wurde. Kein einziger Euro aus staatlichen Kassen floss in das Projekt, kein Euro aus dem internationalen Geber-Füllhorn, das zuweilen wahllos über Afghanistan ausgeschüttet wird. Es ist Sammelgeld, das der barocke Bayer auf Vortragsreisen, durch Talkshows, über Aktionen deutscher Partnerschulen oder von seinen vielen treuen Spendern vereinnahmt.

Die Talibanherrschaft ist vielen noch sehr nah

Die Caritas verwaltet das Geld, und was Erös für seine Projekte braucht, nimmt er in die Hand und bringt es nach Afghanistan. Zwölf Schulen für 35 000 Schüler hat die Kinderhilfe alleine in den letzten knapp vier Jahren gebaut. Schwerpunkt ist die Provinz Nangahar, dort, am Fuß der Berge von Tora Bora, wo Kabul weit und die Taliban-Vergangenheit in manchen Köpfen noch sehr nah ist.

Gouverneur Haji Din Mohammad weiß, was er an Erös hat. Denn dessen unermüdliches Tun lässt auch seinen Stern etwas starker glänzen. Also behandelt er ihn standesgemäß. Wie einen reichen afghanischen Emir.

Und tatsächlich ähnelt Reinhard Erös in Auftreten, in Gestus und Stil einem Landesfürsten. Ohne spürbare Selbstzweifel hat er klare Vorstellungen von Maßnahmen, Tagesabläufen, Verhalten. Die will er stets umgesetzt wissen. Seine 35 Jahre bei der Bundeswehr verleugnet Erös dabei nicht. Im Gegenteil: Der ehemalige Oberst schöpft aus der Schule des Militärs, wenn er
seine Projekte plant, mit seinen Mitarbeitern spricht oder Entscheidungen trifft. Erös’ Wort gilt. Zwar ermuntert er seine Umgebung stets auch zum Widerspruch. Doch wenn am Ende seinen Vorschlägen gefolgt wird, hat er nichts dagegen.

Was ihn antreibt, ist sein christliches Weltbild, seine Nähe zu den Afghanen, deren Schicksal er wie kein anderer kennt. In den 80er-Jahren lebte Reinhard Erös im pakistanischen Peshawar und brach von dort – illegal – regelmäßig in den Osten Afghanistans auf. Dort besuchte er die unter der sowjetischen Besatzung lebenden Menschen auf dem Land, behandelte die Kranken, versorgte sie mit Medizin. Seither gilt Erös bei ihnen als „Mudschahed“, als einer von ihnen, der sie in ihrem Kampf gegen die Russen nicht im Stich ließ.

Erös kleine Mitarbeitertruppe, die ihn auf den Reisen alle paarWochen umschwärmt, ist auf Effizienz getrimmt. Wieder und wieder erklärt er den Afghanen, aus wessen Taschen die Gelder stammen, die rund um Dschalalabad ausgegeben werden. Die Kinderhilfe ist damit der genaue Gegenentwurf zu vielen der NGOs, die sich in Kabul um die Geldtöpfe der internationalen Geber drängeln: So gut wie keine Verwaltung, bescheidene Gehälter, viel Arbeit. „Viele sind doch nur Contractors“, sagt der Bildungsminister über die rund 2 000 NGOs in Kabul. Serviceunternehmen, die heute in Afghanistan Geld verdienten, morgen im Irak und danach im Sudan – und dabei noch die wenigen qualifizierten Afghanen mit ihren hohen Gehältern vom Schuldienst
abwürben. Mit dem Herzen dabei ist nur eine Minderheit.

Viele Helfer sind nicht mit dem Herzen dabei

Bei Erös trifft er damit einen wunden Punkt. Denn der ärgert sich schon lange über Geldverschwendung in Afghanistan. „Wenn ein Projekt nicht mindestens ein paar hunderttausend Euro schwer ist, gibt es keine Förderung“, hat er gelernt. Wer preiswert
ist und schlank organisiert, der wird belächelt. Und in der afghanischen Provinz, die weniger große Annehmlichkeiten als Kabul bietet, engagieren sich nur die wenigsten. Erös aber geht auch hier seinen eigenen Weg.

Am Vorabend der Einweihung der Shajeed-Aref-Schule sitzt der gewichtige Bayer an einem großen runden Holztisch und besprichtmit seiner Mannschaft bei viel grünem Tee Punkt für Punkt den nächsten Tag. „Haben wir genügend Stühle? Was machen wir bei Regen? Ist in der Computerklasse auf den Bildschirmen das Logo der Kinderhilfe zu sehen? Wann gibt es Essen? Macht es nicht zu früh, sonst rennen uns die Leute weg!“ Dabei nebelt sich Erös gerne in den Dunst einer seiner Cohiba Siglo II.

Und dann und wann lässt Erös dickeweiße Rauchwolken aufsteigen. Dann weiß auch seine Truppe, dass die Dinge günstig laufen.

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