Süddeutsche vom 20.6.2003
Ein Bayer baut in Tora Bora Schulen für afghanische Kinder
Mit den Waffen des Wissens
Wie der frühere Bundeswehr-Arzt Reinhard Erös für die Mädchen von Zawa kämpft
Von Philipp Oehmke
Zawa – Vielleicht ist dies der Moment, in dem die Männer spüren, dass hier Unerhörtes passiert. Der Stammesälteste hat soeben seine Plastiklatsche abgestreift, den Fuß im Tennissocken vor sich auf den Stuhl gestellt, mit der einen Hand den Fuß massiert, mit der anderen den hennaroten Bart gestrichen, der ihm wild und lang wächst. Seine Männer erwarten von ihm jetzt eine Antwort. Der Stammesälteste aber schweigt.
Es ist gerade Mittag geworden in Zawa, auf dem Hochplateau, umschlossen von den Bergen Tora Boras. Zwölf Männer sitzen im Oval im Freien, gleich hinter ihnen ein U-förmiger Neubau, der bald eine Schule sein soll. So etwas habe es hier ja noch nie gegeben, sagen die Männer, und so etwas muss es hier auch nicht unbedingt geben, finden einige. In ihrer Mitte sitzt dieser Fremde, ein Deutscher, der indes nicht viel anders aussieht als sie selber. Er trägt eine braune Pluderhose, dazu ein knielanges Hemd in gleicher Farbe und eine runde Filzmütze: die paschtunische Nationaltracht.
Der Fremde war schon zweimal hier. Beim ersten Mal hatte er gesagt, er würde jetzt hier in den Bergen eine Schule bauen, das sei notwendig, denn wenn die Afghanen sich nicht bildeten, blieben sie wehrlos. Dann käme bald wieder eine fremde Macht, wie die Russen, die Amerikaner, die Taliban aus Pakistan oder die Araber der al Qaida und nähmen den Afghanen ihr Land. Die Männer hatten genickt, wohl auch, weil es irgendwie egal war. Sie hatten schon viele Versprechen gehört, im Übrigen fuhr der Fremde ein paar Stunden später wieder weg in seinem Jeep, eskortiert von einem Pickup voller Leibwächter. Die hielten AK-47-Sturmgewehre zwischen ihren Beinen, einer hatte eine Panzerfaust auf der Schulter. Das war im Herbst letzten Jahres, und das afghanische Fernsehen hatte es aufgezeichnet.
Als der Fremde zum zweiten Mal kam, am Neujahrstag, da brachte er den Erziehungsminister mit. Damals stand hier zwischen den Bergen und Höhlen dieses U aus Tora-Bora-Steinen, von dem der Erziehungsminister sagte, das sei eine Schule. Die Männer waren beeindruckt. Die meisten von ihnen können ja selber nicht lesen und schreiben, dafür ein jeder mit einem AK-47 umgehen oder einer Panzerfaust. Die Älteren haben sogar noch die amerikanischen Stinger- Luftabwehrraketen auf sowjetische Hubschrauber abgefeuert: eine reale Leistung mit unmittelbarem Effekt; eine Schule aber bleibt ihnen abstrakt wie die Statistiken der UNESCO.
Die bescheinigt Afghanistan eine der höchsten Analphabeten-Raten der Welt: nur die Hälfte aller Männer kann lesen und schreiben, von den Frauen nur jede Fünfte. Und das Bildungsministerium der vor einem Jahr eingesetzten Regierung des Präsidenten Hamid Karzai gab bekannt, dass anderthalb Millionen Kinder im Schulalter nicht zur Schule gehen können. Es gibt nicht genügend.
Deshalb ist dieser Fremde gekommen. Heute ist er ohne Fernsehen hier, ohne Erziehungsminister, aber wieder mit dem Pick-Up voller Leibwächter, und er sagt, der Schulbetrieb gehe jetzt bald los, und es sei sein Wille, dass auch Mädchen auf diese Schule gingen. Dies ist der Moment, in dem die Männer zusammenzucken; in dem der Dorfvorsteher seine Sandale abstreift und schweigt.
Erös blickt in die Runde: Reinhard Erös, Dr. Erös, 54 Jahre alt, pensionierter Oberstarzt der Bundeswehr, ehemaliger Mudschahedin-Arzt, Oberpfälzer aus Regensburg, seit 20 Jahren in Afghanistan unterwegs, Vater von sechs Kindern. Vor fünf Jahren gründete er die Kinderhilfe Afghanistan, mit ihr baut er Schulen, doch er tut das anders, als UNICEF das tun würde. Erös ist Einzelkämpfer, das war er immer, ein Fallschirmjäger. Bei ihm, sagt er, gibt es keine Spendenaufrufe, keine Briefkastenwerbung, keine Angestellten, keine Spesen, keine Bürokratie. Es gibt nur ihn, Erös, seine Frau Annette, die ihm hilft, und ein paar Afghanen vor Ort. In Schulen, Stiftungen und politischen Organisationen hält Erös Vorträge, 500 seit dem 11. September 2001, und weil die mit ziemlicher Wortgewalt daherkommen, sehr bayerisch, sehr kundig, fast polternd, wollen danach die meisten Zuhörer spenden. Erös taucht im Fernsehen auf, erzählt beim Biolek Kriegsgeschichten oder spricht im Dritten als Experte zum Irak-Krieg.
Wenn er genug gesammelt hat – etwa 60 000 Euro für eine Schule –, schichtet er das Geld in einen Metallkoffer, kettet sich den Koffer ans Handgelenk und fliegt von München nach Peschawar. In Peschawar, Pakistan, nahe der afghanischen Grenze, besteigt Erös seinen Toyota-Jeep, fährt mit Begleitschutz über den Khaiber-Pass nach Afghanistan, verhandelt dort mit Stammesältesten und Dorfvorstehern und heuert schließlich Ingenieure, Maurer und Tischler an, die die Schule errichten. Erös stellt Lehrer ein, die er alle sechs Wochen persönlich auszahlt; um die 100 Euro im Monat gibt er ihnen, in bar natürlich.
So kommt es zum Beispiel, dass in einem Gebirgsdorf nördlich von Dschalalabad, eingeschlossen von den Bergen, in denen die Amerikaner immer wieder den radikal-islamischen Kriegsfürsten Gulbuddin Hekmatjar bombardieren, inzwischen die Grundmauern stehen für die Lions-Club-Schule Kheba: Der Lions Club Bayern Süd hat 60 000 Euro zugesagt, bald ist Eröffnung. Und dann wird der Soldatenarzt a. D. Reinhard Erös insgesamt rund 7000 Schüler, Jungen und Mädchen, in sieben Schulen versorgen – und man könnte sagen, damit führt er die effektivste private Hilfsorganisation in Afghanistan.
Warum Erös so erfolgreich ist, das mag in diesem Moment auch den Männern von Tora Bora aufgehen. Erös richtet gerade jene Worte an sie, mit denen er 1998 beim Bau seiner ersten afghanischen Schule in Dschalalabad schon die damals noch herrschenden Taliban-Führer überzeugte: „Wenn eure Mütter und Töchter und Frauen krank werden, wer soll sie dann behandeln? Wollt ihr, dass sie von männlichen Ärzten untersucht werden?“ Kopfschütteln, Brummen, Zungenschnalzen. Wovon redet der Fremde? „Wollt ihr, dass sie gar nicht behandelt werden? Dass die Mütter und Töchter Afghanistans sterben und euch keine Söhne mehr gebären?“ Der Stammesälteste, er muss ungefähr 80 sein, stöhnt auf. „Dann“, sagt Erös, „müssen sie von weiblichen Ärzten gesund gemacht werden. Wie ihr wisst, bin ich selbst Arzt. Den Arztberuf aber muss man lernen wie das Schießen mit einer Kalaschnikow. Eure Ärztinnen müssen hier auf die Schule gehen, damit sie später in Dschalalabad auf eine Universität gehen können.“ Die Männer kapitulieren. Diesem Fremden, der, wie jeder hier weiß, alle großen Mudschahedin, die muslimischen Glaubenskrieger, und die Militärkommandanten kennt, der selber im Heiligen Krieg gegen die Russen in Berghöhlen verletzte Mudschahedin als Arzt versorgt hat – diesem Fremden ist womöglich nicht viel entgegenzusetzen.
Gerade jene Bilder aus den Berghöhlen kommen zurück an diesem Tag auf der dreistündigen Rückfahrt zu Erös’ Büro in Dschalalabad, auf Tora Boras Geröllstraßen, an deren Flanken sich Mohnfelder abwechseln mit Minenfeldern. Afghanistans Tragik ist hier ausgebreitet, links die Spuren des Krieges, rechts die Quellen des Geldes. Es war vor allem diese Gegend, in die Erös früher von seinem Haus in Peschawar aufbrach. 1987 war das, da hatte er sich von der Bundeswehr für drei Jahre beurlauben lassen. Er nahm seine Frau und damals vier Kinder und zog nach Peschawar, zog in die wilde pakistanische Stadt, gleich an der Grenze zum Stammesgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan. Heute gilt Peschawar als Sammelbecken versprengter al-Qaida- und Taliban-Kämpfer; damals diente es als Exil afghanischer Kriegsfürsten, der so genannten Sieben von Peschawar, die sich später nach Abzug der Russen und vor Einzug der Taliban so verbittert bekriegten. Viele von ihnen kennt Erös noch, zum Beispiel den Commander Hadschi Zaman, einen gefürchteten Mudschahed, ehemals Militärchef in der Provinz Nanghahar, später von den Amerikanern bezahlter Bin-Laden-Jäger in Tora Bora, Erös’ Busenfreund. Es sind solche Männer, die Erös in Afghanistan die Türen öffnen. Zaman verdankt er sogar einen Toyota Pick-Up. Den hatte der Kriegsherr der al Qaida in Tora Bora abgenommen, das Auto rollt jetzt für die Kinderhilfe Afghanistan.
Erös jagt den Jeep über die Steinpiste, weg von den Orten jener Tage, die auch ihn selbst in die Katastrophe führten, die mit einer tödlichen Krankheit seines dreijährigen Sohnes abrupt endeten. Er erkennt eine Stelle an einem Berghang. Ja, dort hatte er sich versteckt. „35 russische Hind-Hubschrauber haben dort mich und meine Mudschahedin-Gruppe gesucht“, sagt er. „Wir saßen unter einem Felsvorsprung und hörten immer wieder das Pfeifen der Hubschrauber-Bordraketen, die auf uns zukamen. Nur wenige Meter neben uns detonierten 100-Kilo-Bomben.“ Er sei ein gut ausgebildeter Offizier der Fallschirmjäger gewesen, sagt Erös, doch auf die wochenlangen Fußmärsche, die Mangelernährung, das Leid seiner Patienten und die ständigen Angriffe war er nicht vorbereitet. Erös hörte bald auf zu schlafen und zu reden. Er begann zu trinken, ging schließlich in Therapie. Später in Deutschland erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Aber das Opium
Die Straße führt immer wieder durch kleine Dörfer, ein braunes Band aus Abwasser rinnt am Straßenrand, dahinter geschlachtete Kühe an Metallhaken, ein Ochsenkopf in einer Blutlache. Männer liegen in Bretterverschlägen, Frauen sind nicht zu sehen, genauso wenig wie in Dschalalabad oder in Kabul. Dort tragen die wenigen Frauen, die sich zeigen, immer noch die Burka, die den ganzen Körper einhüllt; die Taliban sind weg, doch ihre Zwänge sind als Gewohnheit geblieben, wie zum Andenken an ihre Herrschaft. Manchmal liegt am Straßenrand ein rot bemalter Stein, das Signal für eine scharfe Mine. Es sind viele rote Steine. Ungefähr noch zehn Millionen Minen bedecken Afghanistans Boden, und Erös hat ausgerechnet, dass, legt man das jetzige Tempo ihrer Entschärfung zugrunde, man noch weitere 4300 Jahre braucht, bis Afghanistan minenfrei ist.
Als Erös wieder in Dschalalabad ankommt, ist es dunkel, die Sicht miserabel. Der Scheinwerferkegel des Jeeps bleibt stecken im aufgewirbelten Staub der Straßen, nur in der Ferne steht ein Feuerschein am Himmel. Das größte Warenlager der Stadt brennt, es gehörte einem gewissen Ali Baba, einem windigen Geschäftsmann, der seine Millionen in Dubai anlegt, wie Erös vom Commander Hadschi Zaman erfuhr. Ein regionaler Milizenführer hatte Ali Baba um eine Million gebeten, leihweise natürlich; dieser schlug ab, das Warenlager brannte, und würde brennen für die nächsten drei Tage. Niemand würde es löschen. An der Brandstelle haben sich Toyota Pick-Ups eingefunden, auf ihnen sitzen junge Paschtunen mit Panzerfäusten. Irgendwie gehören sie zu den Regierungstruppen, sagen sie.
Am Tag zuvor hatte Erös noch den Militärkommandeur von Dschalalabad getroffen, wie er das immer tut bei seiner Ankunft, den Commander Musa, einen mächtigen Mann mit einer Granatsplitternarbe auf der Stirn. Erös ließ sich grünen Tee servieren und von Commander Musa militärisch knapp Rapport erstatten: „Die Sicherheitslage?” Keine Vorkommnisse, meldete der Commander. 1800 Mann habe er unter Waffen, allerdings nur für 80 eine Uniform. Sold aus Kabul sei auch noch keiner gekommen, aber die Moral stabil, Karzai ein guter Mann, die Taliban in Pakistan und al Qaida verschwunden oder tot.
Aber das Opium, sagt Erös. Der Commander übergeht die Frage, erkundigt sich stattdessen nach den Schulen. Die Schulen, sagt Erös und mustert den Commander, die Schulen würden das Opium irgendwann überflüssig machen.
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