Thüringer Allgemeine vom 15.11.03
Auf der schiefen Ebene
Entwicklungshelfer warnen vor weiterem Abrutschen Afghanistans in Krieg und Kriminalität
Eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes und der deutschen Entwicklungshilfe in den Osten Afghanistans fordert Reinhard Erös von der Organisation Kinderhilfe Afghanistan. Er warnt vor einem Rückfall des Landes ins Chaos.
Von Thomas ROTHBART
Das kapier ich nicht, erregt sich der bullige Mann in der bayerischen Lederjacke. Die Bundeswehr geht nur noch dorthin, wo es ungefährlich ist. Ginge es nach ihm, würde sich die deutsche Entwicklungshilfe vor allem auf die Provinzen im Osten und im Süden Afghanistans konzentrieren. Der Bundeswehreinsatz im Norden des Landes hat für den Entwicklungshelfer allenfalls eine Berechtigung als Training. Selbst Hilfsorganisationen dort erklären, dass sie keinen militärischen Beistand bräuchten. Der ehemalige Bundeswehroberst weiß, wovon er spricht. Seit Mitte der 80er-Jahre ist er in Afghanistan aktiv. Mit seiner privaten Hilfsorganisation errichtet er im Osten des Landes Schulen. Nicht einmal sind wir angegriffen worden, weist er das Argument zurück, ein Einsatz dort sei zu gefährlich. Im Gegenteil. Gerade im Osten des Landes hätten die Deutschen eine Basis. Professoren haben in der Provinzhauptstadt Jalalabad an der Universität gelehrt. Die Polizei wurde ebenfalls von Deutschen aufgebaut.
Stattdessen überlässt man die Provinzen sich selbst, wie Erös beklagt. Die Konzentration der internationalen Gemeinschaft auf die Hauptstadt Kabul hat bereits fatale Folgen. Die Bevölkerung Kabuls ist in den letzten Jahren um mehr als das
Dreifache auf über drei Millionen angewachsen. Die Stadt verslumt und die Kriminalität ufert aus, beschreibt der Entwicklungshelfer, der auf einer Vortragsreise durch Thüringen um Spenden geworben hat, die Situation. Doch die Hauptstadt hat mit den Vorgängen im Lande seit jeher nicht viel zu tun. Die Menschen in den Provinzen sehen die Entwicklung zunehmend misstrauisch und frustriert. Seit die Uno mit ihren Weizenlieferungen den Markt für die einheimischen Bauern kaputt gemacht hat, verlegen diese sich wieder verstärkt auf den Mohnanbau. 2,7 Millionen Afghanen sind bereits in die Rauschgiftproduktion involviert. Die Einnahmen übersteigen die Wiederaufbauhilfe bereits um das Vierfache. Tendenz steigend. Besonders tragisch ist, dass die Getreideernte erstmals seit Jahren ausgereicht hätte, die Bevölkerung zu ernähren. Afghanistan ist auf einer schiefen Ebene, warnt Erös. Vollziehe sich nicht rasch ein radikaler Kurswechsel bei der Entwicklungshilfe, zerfällt das Staatsgebilde. Die Folgen sind bekannt. Das Rezept des Entwicklungshelfers klingt simpel: Berater für die Provinzgouverneure und Schulen, um der Taliban-Idee etwas entgegenzusetzen. Schulen sind das billigste und effektivste Instrument der Entwicklungshilfe, sagt Erös. Er weiß, wovon er spricht. Seine Organisation beschäftigt über 800 aus privaten Spenden finanzierte Lehrer.