Kinderhilfe Afghanistan

Afghanistan

Akademie für politische Bildung - Tutzing - Akademie-Report 4/2004

Tee trinken mit dem Teufel

Der Arzt Reinhard Erös berichtet von seiner
humanitären Arbeit in Afghanistan


"Wenn man in der Vorhölle ungestört arbeiten will, muss man bereit sein, mit dem Teufel ab und zu eine Tasse Tee zu trinken." Unter diesem Motto steht die Arbeit von Reinhard Erös, der einen mitreißenden Vortrag über die politische und humanitäre Situation in Afghanistan hielt.

Nach seiner Einschätzung haben die Präsidentschaftswahlen für einen Großteil der afghanischen Bevölkerung nicht die herausragende Bedeutung, welche ihnen von internationaler Seite zugeschrieben wird. In den Augen vieler Afghanen ist vielmehr die Schaffung völliger Sicherheit und das Voranschreiten der Entwicklung vorrangig. So leidet insbesondere die ländliche Bevölkerung weiterhin unter den Folgen der jahrelangen Kriege und der Taliban-Herrschaft, denn sowohl die Mehrzahl der Hilfsorganisationen als auch die 1SAFTruppen sind fast ausschließlich in und um Kabul aktiv. In die Provinzen gelangt jedoch kaum Hilfe und als Folge dieser Vernachlässigung etabliert sich in vielen dieser Gegenden immer mehr der Opiumanbau, da er schnellen Reichtum bedeutet. Diese Probleme werden von internationaler Seite zwar gesehen, doch werden der Bevölkerung keine Alternativen angeboten. Erös sieht darin die Gefahr, dass sich Afghanistan in den nächsten Jahren zum weltweit größten Opiumlieferanten entwickeln wird.
Für die meisten Zuhörer ist neu, dass viele Jahrzehnte lang zwischen Deutschland und Afghanistan traditionell gute Beziehungen bestanden. Der Ursprung liegt darin, dass schon in den 20er Jahren mit der deutschen Amani-Oberrealschule eine der in den folgenden sechs Jahrzehnten besten Schulen des Landes gegründet wurde. Das dort zu erwerbende Abitur ermöglichte der afghanischen Bildungselite ein an-schließendes Studium in Deutschland. Dies hat dazu beigetragen, dass bis in die 80er Jahre Deutsch die in Afghanistan am meisten gesprochene Fremdsprache war und Deutschland bis heute ein sehr gutes Ansehen unter den Afghanen genießt.

Hilfe in der Provinz
Der frühere Bundeswehr-Arzt Erös gründete 1998 die "Kinderhilfe Afghanistan" (http://www.kinderhilfe-afghanistan.de) und verbringt seit 2001 jedes Jahr mehrere Monate in Afghanistan, um vor Ort die Projekte seiner gemeinnützigen und mit privaten Spendengeldern finanzierten Hilfsorganisation zu betreuen und die Verwendung der Geldmittel zu kontrollieren. Dabei konzentriert sich die Arbeit der privaten Hilfsorganisation insbesondere auf die besonders bedrohten und gefährdeten Ostprovinzen Afghanistans, wo sie sich dem Aufbau von medizinischen Einrichtungen für Frauen und Kinder, so genannten "Mutter-Kind-Kliniken", und Schulen verschrieben hat. So wurden in den vergangenen zwei Jahren ein Dutzend so genannter Friedensschulen und Basisgesundheitsstationen gebaut und mit dem notwendigen Lehr- und Lernmaterial bzw. mit medizinischen Geräten ausgestattet. Die "Kinderhilfe Afghanistan" bezahlt darüber hinaus den derzeit rund 450 Mitarbeitern ein regelmäßiges Gehalt.

Höhlenkliniken
Erös' Engagement für das afghanische Volk begann jedoch nicht erst 1998. Schon 1986 war er als ärztlicher Leiter einer deutschen Crossborder-Hilfsorganisation im Kriegsgebiet unterwegs und versorgte afghanische „Gotteskrieger” der Mudschaheddin medizinisch im Krieg gegen die sowjetischen Besatzungstruppen. In wochenlangen Fußmärschen zogen die Freiwilligen mit jeweils rund 30 Mann starken Karawanen aus Trägern, Köchen und einheimischen Hilfsmedizinern durch die Berge Afghanistans, aus Angst vor den sowjetischen Bombern stets im Schutz der Dunkelheit. In so genannten Höhlenkliniken, natürlichen oder eigens in die Berge gesprengten Hohlräumen, in denen man sich einigermaßen sicher fühlen konnte, unterhielt die Organisation schließlich 14 Medizinstationen und behandelte in einem Jahr immerhin 180 000 Patienten. Aus dieser Zeit rühren auch seine hervorragenden Kontakte zu den afghanischen Mudschaheddin, welche ihm bei den späteren Verhandlungen zur Realisierung seiner humanitären Hilfsprojekte sehr nützlich waren und sind. Denn vor und auch noch nach dem Sturz des Taliban-Regimes haben diese viel Macht im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Da die Koranschüler jederzeit Erös' Projekte gefährden könnten, stehen somit bei jeder Reise diplomatische Gespräche mit Taliban-Mullahs auf dem Programm.
1987 zog die Familie Erös dann vorläufig in die afghanisch-pakistanische Grenzstadt Peschawar, um von dort aus die Arbeit in der Kriegsregion Afghanistan zu koordinieren. Erös' Frau gründete während dieser Zeit die erste internationale Friedensschule in Peschawar, an der sowohl die Kinder aus dem "Paradies" – Europa und Nordamerika – als auch aus der "Hölle" afghanischer Flüchtlingslager gemeinsam unterrichtet wurden. Auf Grund des auf den Abzug der sowjetischen Armee folgenden erbitterten Bruderkriegs unter den afghanischen Kriegsfürsten mussten Erös und seine Familie sowie fast alle internationalen Hilfsorganisationen Afghanistan verlassen. Das entstandene Machtvakuum Mitte der 90er Jahre ermöglichte dem Djihadismus, seine Aktivitäten insbesondere in der Region Kandahar vorzubereiten und die anschließende Kontrolle über das ganze Land zu gewinnen. Die Anhänger dieses aus Saudi-Arabien stammenden Wahabi-Islams (zu unterscheiden von dem in Afghanistan vorherrschenden und nicht missionarischen Suffi-Islam) sind vornehmlich rigide und fanatische "Gotteskrieger" und in der Masse Analphabeten. Sie wurden und werden auch weiterhin insbesondere in der Gegend um Peschawar in einer Vielzahl von Schulen des Wahabi-Islams unbehelligt ausgebildet.

Kulturelle Missverständnisse
Während seines lebhaften Vortrags hob Erös immer wieder die Bedeutung des Verständnisses und der Akzeptanz der verschiedenen kulturellen Gegebenheiten bei der Arbeit in und für Afghanistan hervor. Er bemängelte, dass die Vielzahl der internationalen Helfer darauf keine Rücksicht nehmen un deshalb häufig unnötige Konfliktsituationen entstehen. So wurde ein Medizinerkollege auf Grund kulturelle Missverständnisse für einen „gottlosen” kommunistischen Spion gehalten und Reinhard Erös musste gemeinsan mit seinem treuen afghanischen Freund und Begleiter Alem unter schwierigsten Umständen den vermeintliche Spion vor seiner – der afghanische Kultur nach – "gerechten" Strafe retten. Dabei stand jedoch nicht nur das Leben des Kollegen, sondern auch sein eigenes auf dem Spiel. Wie Erös diese und andere Schwierigkeiten gemeistert hat, kann man in seinem Buch "Tee mit dem Teufel" nachlesen.
Marije Weber


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